Leseprobe: Kranich


Kapitel 1: Fall Lindner
Ben starrte die graue Decke an, eine Ewigkeit gefangen zwischen den tickenden Sekunden seiner Wanduhr und der unerträglichen Stille seines Schlafzimmers. Es war kurz nach drei Uhr morgens, und wie so oft in den letzten Wochen lag er hellwach. Die Müdigkeit war ein zäher, klebriger Schleim, der sich an jeden Muskel heftete, aber der Schlaf war ein Fremder geworden, der sich weigerte, einzutreten. Seine Augen brannten, trocken und rot vom ständigen Aufbleiben. Er rieb sie, aber das half nicht. Nur das leichte Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass sein Körper noch funktionierte.
Ein tiefer Atemzug, dann die Übungen, die seine Therapeutin empfohlen hatte – zählte rückwärts von hundert, konzentrierte sich auf seinen Atem, stellte sich vor, er würde auf einer Wolke schweben. Er hasste die Ironie daran. Jahrelang hatte er selbst Patienten genau das geraten. Jetzt klang es wie ein schlechter Witz. Stattdessen hörte er das Knarren des alten Hauses, das sich in der kühlen Nachtluft ausdehnte und zusammenzog. Normalerweise beruhigte ihn das. Jetzt war es nur ein weiteres Geräusch in der Symphonie der Leere. Manchmal dachte Ben, er hätte genug über Schlafstörungen geforscht, um sie zu besiegen. Doch Theorie half niemandem, der nachts in seiner eigenen Diagnose lag.

Auf die Seite gedreht, knirschte das Kissen leise unter dem Kopf. Sein Blick fiel auf den Nachttisch. Dort lag sein Lieblingsbuch, ein alter Hardcover-Roman, den er vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Er war sich absolut sicher, dass er es vorsichtig danebengelegt und seine Brille daraufgelegt hatte. Doch jetzt lag das Buch offen auf dem Boden, ein paar Seiten verknickt, die Brille gefährlich nah am Fuß der Kommode.

Ben runzelte die Stirn. Das war nicht das erste Mal. Letzte Woche hatte er seinen Schlüsselbund auf die Küchentheke gelegt, nur um ihn am nächsten Morgen im Schuhregal im Flur zu finden. Ein anderes Mal war sein Notizbuch, das er auf seinem Schreibtisch gelassen hatte, unter seinem Bett aufgetaucht. Kleine Dinge, die er bisher mit seiner zunehmenden Schusseligkeit durch den Schlafmangel abgetan hatte. Die Häufigkeit dieser »Verpeiltheiten« war jedoch zunehmend beunruhigend und ließ seine anfängliche Selbstberuhigung bröckeln.

Das Parkett knarrte leise unter seinen Füßen, als Ben aufstand. Ein kalter Luftzug strich über seine Haut, als er zum Fenster trat und die Vorhänge beiseitezog. Die Straße lag verlassen da, die Laternen warfen lange Schatten. Keine Bewegung. Dennoch schien die Scheibe leicht beschlagen zu sein, obwohl es nicht kalt genug dafür war. Und für einen kurzen Moment, einen winzigen Bruchteil einer Sekunde, schwor er, einen kaum sichtbaren Schriftzug in dem Beschlag zu erkennen. Etwas wie ein einzelner, flüchtiger Buchstabe, vielleicht ein »W« oder ein »M«, der verschwommen war, bevor er ihn richtig fixieren konnte. Er wischte mit dem Ärmel darüber, und der Beschlag verschwand.

Ein Schauer kroch ihm über den Rücken. Unsinn. Er war einfach nur übermüdet und sah Gespenster, wo keine waren. Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Licht der Arbeitsplatte warf harte Schatten. Auf dem Küchentisch lag eine leere gebrauchte Kaffeetasse. Er wusste, dass er die Spülmaschine vor dem Schlafengehen angeschaltet und alle Tassen eingeräumt hatte. Die Maschine summte leise im Hintergrund. Er öffnete sie – die Maschine war halb voll, das Geschirr sauber – genug Platz also für eine Tasse. Und doch stand sie draußen, mitten auf dem Tisch. Er schüttelte den Kopf. Konnte es sein, dass er sie vergessen hatte? Oder war er im Halbschlaf aufgestanden und hatte etwas getrunken? Er konnte sich nicht erinnern. Die zunehmenden Gedächtnislücken waren ein weiteres Symptom, das ihn zunehmend beunruhigte.

Beim Trinken des kalten Wassers durchzuckte ihn ein neuer Stich von Paranoia. War er wirklich allein im Haus? Keine Mitbewohner, keine Haustiere – nur Stille. Und doch hatte in den letzten Nächten immer wieder dieses Gefühl an ihm genagt, beobachtet zu werden. Ein Geräusch aus dem Flur, vorsichtig, wie Scharren oder Kratzen. Bisher ließ sich das leicht erklären: Heizungsrohre, das Windspiel des Nachbarn, Zufall. Doch diesmal klang es anders. Näher.

Leise Schritte führten in den Flur, das Herz pochte bis in die Schläfen. Die Dunkelheit wirkte dichter als gewöhnlich, beinahe stofflich. Ein Moment des Lauschens – nichts. Nur der eigene, zu schnelle Atem. Mit einem Griff das Licht eingeschaltet, um Stille zu brechen und Schatten zu vertreiben. Als die Lampe aufflackerte, lag auf dem hellen Dielenboden, direkt vor der Wohnzimmertür, ein kleiner dunkler Fleck – kaum größer als eine Münze. Gebückt, der Blick nah am Boden: kein Schmutz, sondern ein getrockneter Blutfleck, klein, alt, fast schwarz. Kälte erstarrte in den Gliedern. Woher kam das? Der Boden war erst letzte Woche gewischt worden – da war nichts. Die Fingerspitze berührte den Fleck vorsichtig: rau, fest, längst getrocknet. Ein Schub Übelkeit stieg auf, der ihm den Magen umdrehte und den Hals zuschnürte. Wer war in seinem Haus gewesen? Und warum hatte er es nicht bemerkt? Vielleicht nur Einbildung. Vielleicht eine Manifestation der Schlaflosigkeit, die den Verstand verbog.
Er zückte sein Handy und sah auf die Uhr. 03:27 Uhr. Viel zu früh, um jemanden anzurufen. Er war am Ende seiner Kräfte. Der Blutfleck starrte ihn an, ein winziger, aber unbestreitbarer Beweis dafür, dass etwas in seinem Leben nicht stimmte. Etwas, das über bloße Vergesslichkeit hinausging. Etwas, das ihn beobachtete.

Ben stand im Halbdunkel und spürte, wie die Anspannung in ihm wuchs. Der Blutfleck war klein, vielleicht so groß wie eine Ein-Euro-Münze, aber er zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, als würde er pulsieren. Die Stille war nun kein Mangel an Geräuschen mehr – sie war ein Druck, der in seinen Ohren rauschte.

Ruhig bleiben. Nicht in Panik verfallen. Nicht wieder, nach der letzten Attacke, die ihn fast ohnmächtig werden ließ. „Rational bleiben“, murmelte er. Seine Stimme klang fremd in der Dunkelheit. Er ging zurück ins Schlafzimmer, das Buch lag nun wieder auf dem Nachttisch. Wieder auf dem Nachttisch...?

Ben blieb abrupt stehen. Sein Blick wanderte zwischen Tisch und Tür hin und her. Er hatte das Buch aufgehoben, ja – aber dort hingelegt? Nein. Das hatte er nicht getan. Seine Hand tastete über die Oberfläche, mechanisch. Die Brille lag wieder darauf, genau wie er sie ursprünglich abgelegt hatte. Als hätte jemand – oder etwas – alles wieder an seinen Platz gebracht.

Ein Prickeln breitete sich über seine Arme aus. Kalte Gänsehaut, die unter der Haut zu wuchern schien. Er sah sich um. Der Raum war leer. Natürlich war er leer. Ben rieb sich die Stirn. Er musste den Schlaf nachholen. Er war übermüdet, sein Gehirn spielte ihm Streiche. Aber warum hatte er dann das Gefühl, als hätte sich etwas bewegt, genau in dem Moment, als er sich umgedreht hatte?

Ein Schatten vielleicht. Ein Schatten hinter dem Spiegel? Er ging zur Kommode. Der große Wandspiegel zeigte nur sein eigenes blasses Gesicht, geisterhaft in der Dunkelheit, mit weit aufgerissenen Augen und eingefallenen Wangen. „Du wirst krank“, flüsterte er. Es war nicht als Selbstgespräch gedacht – eher wie ein Urteil. Doch in dem Moment, als er sich abwenden wollte, blitzte hinter ihm etwas auf – nur für einen Augenblick. Er drehte sich blitzschnell um. Nichts. Nur das offene Schlafzimmer. Kein Geräusch. Kein Licht. Keine Bewegung.

Sein Blick blieb am Flur hängen. Etwas dort draußen war falsch. Nicht die Dunkelheit machte ihm Angst – es war das, was in ihr lauerte. Es war das Gefühl, dass sie beobachtete. Ben trat aus dem Schlafzimmer, vorsichtig, als würde er auf einem fremden Boden gehen. Der Flur wirkte anders. Nicht optisch – aber atmosphärisch. Dichter. Er fühlte sich an wie ein Gang in einem alten Hotel, in dem man aus Versehen auf der falschen Etage gelandet war.

Die Dielen knarrten unter seinen nackten Füßen. Entlang der Wand tastend, traf die Hand auf Kälte – unerwartet, fast abweisend. Ungewöhnlich kalt. Vielleicht war das Thermostat kaputt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Als er die Treppe hinunterging, fiel sein Blick auf den Eingangsbereich. Die Haustür war verschlossen. Der Riegel saß fest, das Schloss ebenfalls. Aber der Briefschlitz stand offen. Nicht ganz – nur einen Spalt.
Ein hauchdünner Streifen Schwarz, wie ein Auge in der Tür. Ben blieb stehen. Starrte. Wartete. War das der Wind gewesen? Ben war sich sicher, ihn geschlossen zu haben. Er schloss ihn immer. Ritual. Automatisch. Kontrollzwang, hatte die Therapeutin gesagt. „Ein Mechanismus, um Kontrolle zu behalten, wo du keine hast.“ Vielleicht war das wahr. Ben trat näher. Beugte sich langsam hinunter, blickte durch den Schlitz. Nur Dunkelheit draußen.

Die Straße war leer. Kein Auto, kein Licht, kein Geräusch. Dann hörte er ein Flüstern. Leise. Kratzend. Nicht wie Worte. Eher wie ein schabendes Summen. Es kam von draußen. Oder aus dem Briefschlitz. Ben zuckte zurück, schlug die Klappe zu. Das Metall schepperte, hallte durch den Flur wie ein Warnsignal. Keine Reaktion. Nur wieder Stille. Bewegungslos stand Ben da. Der Puls hämmerte in den Schläfen. In der Brust klopfte eine alte Angst – eine, die er seit Jahren nicht gespürt hatte. Als Kind hatte er Stimmen gehört. Nur manchmal. Immer nachts. Damals hatte man ihm gesagt, es sei nur der Wind. Er wusste es besser. Ben schloss die Tür ab, zweimal, wie immer. Der Riegel rasselte mechanisch, als wollte er sichergehen, dass auch wirklich niemand von außen hereinkam. Oder von innen hinaus. 

Eine Drehung. Dann Stillstand. Etwas lag auf der Fußmatte. Nicht draußen. Drinnen. Ein kleines, rechteckiges Stück Papier – leicht vergilbt, mit ausgefransten Kanten. Ein Foto. Langsam ließ Ben sich auf die Knie nieder, als müsste er sich der Vergangenheit im Zeitlupentempo nähern. Seine Finger griffen danach. Zögernd. Vorsichtig. Es war ein Kinderfoto. Ein Junge von vielleicht sieben Jahren, mit schiefem Lächeln, auf einem Spielplatz. Im Hintergrund: ein verwitterter Holzpavillon, ein Klettergerüst aus Metall.
Die Sonne fiel schräg durchs Bild, wie bei alten Schnappschüssen aus den Neunzigern. Ben erstarrte. Den Ort kannte er. Und den Jungen. Sich selbst. Ein Foto aus seiner Kindheit. Unmöglich. Seine Mutter hatte alle alten Bilder weggeworfen. Damals. Nach dem …
Ein Schlucken. Vorsichtig drehte Ben das Foto um. Zittrige Handschrift, blaue Tinte: „Du warst nicht allein.“ Das Foto entglitt seinen Fingern, als hätte es ihn gebissen. Es segelte zu Boden, landete auf der Rückseite. Herzrasen. Atemstillstand. War jemand in seinem Haus gewesen? Heute Nacht? Vor Tagen? Oder war das alles Teil eines Zerfalls, der schon vor Wochen begonnen hatte? Die Finger kribbelten, kalter Schweiß rann den Rücken hinab. Du warst nicht allein.
Der Satz hallte in seinem Kopf wie ein Echo aus einer vergessenen Erinnerung. Ben legte das Foto zurück auf den Boden. Es fühlte sich falsch an, es noch einmal zu berühren – als hätte es sich beim Lesen verändert. Er trat zurück, den Blick auf den Flur gerichtet, aber sein Verstand war woanders. Kindheit. Holzpavillon. Jemand hinter der Kamera. Er erinnerte sich nicht an das Foto. Aber das Gefühl war da.
Die Erinnerung an den Moment. Und an jemanden, der gelacht hatte – tief, kehlig, nicht freundlich. Ben rieb sich die Schläfen. Er wollte das alles vergessen. Wollte nur schlafen. Doch Schlaf war keine Option. Nicht jetzt. Langsame Schritte zurück ins Schlafzimmer. Die Dunkelheit empfing ihn wie ein zögernder Gastgeber. Mit einem Klick sprang die Lampe an. Grelles, unbarmherziges Licht – und das Erste, was sich ihm zeigte, ließ ihn innehalten. Die Bücher im Regal standen anders. Er wusste es. Ganz sicher. Ben war pedantisch, wenn es um Ordnung ging. Das Alphabet war sein Gesetz: Autorenname, Erscheinungsjahr, Thema. Immer. Aber nun… Die mittlere Reihe war verschoben. Drei Bücher lagen quer. Quer. Ein völliger Bruch. 
Ein Schritt näher, dann zog Ben eines der Bücher heraus. Ein Lexikon der psychischen Störungen.Dick. Grau. Alt. Gelesen während seiner ersten Therapie. Mit neunzehn. Damals – dieser … Einbruch. Zwischen den Seiten fiel ein Zettel heraus. Handgeschrieben, in derselben zittrigen Schrift wie auf dem Foto: „Nicht vergessen, Ben. Du hast es gewollt.“ Ein Blinzeln. Das Papier war dünn, fast durchsichtig. Der Geruch: Staub, Keller, Erinnerung. Vorsichtig schloss Ben das Buch. Beim Umdrehen fiel sein Blick auf das Bett. Die Decke – zurückgeschlagen. Er war sich sicher, sie zuvor glattgezogen zu haben. Er tat das immer. Ein Zittern durchlief ihn. Nicht heftig. Nur ein leises, feines Frösteln. Wie eine Ahnung. Wie eine Frage, die noch nicht gestellt war. Ben stand minutenlang reglos im Raum.
Nur sein Atem bewegte sich. Nicht einmal die Schatten tanzten – als hätte das Licht selbst beschlossen, still zu bleiben. Etwas tun. Etwas Reales. Greifbares. Etwas, das verankerte. Also richtete Ben das Bett wieder her. Zog die Decke glatt, wie immer. Ein Ritual gegen das Chaos. Beim Anheben des Kissens spürte er es sofort. Widerstand. Etwas darunter.Nicht groß – vielleicht handtellergroß. Vorsichtig zog Ben es hervor.
Ein Stofftier. Alt. Grau. Die Seitennaht aufgeplatzt, das Plastikauge halb abgekratzt. In den Händen lag es, als hätte ihm jemand ein Stück Kindheit zurückgegeben – aber nicht aus Freundschaft. Eher wie eine Warnung. Das Tier kannte er. Moritz. Verloren mit neun, auf einem Ausflug. Tagelang hatte er geweint. Die Eltern hatten ihn nie gefunden.

Und jetzt lag Moritz unter seinem Kissen. Langsam ließ Ben sich auf die Bettkante sinken. Der Plüsch fühlte sich kühl an. Fremd. Und doch war er einst das Vertrauteste gewesen, das er besaß. Beim Umdrehen des Tiers fiel es auf: Ein Aufnäher war angenäht – neu. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund:

„WILLKOMMEN ZURÜCK.“