Leseprobe: Das Flüstern in den Wänden

Kapitel 1: Das Flüstern in den Wänden


Ben starrte die graue Decke an, eine Ewigkeit gefangen zwischen den tickenden Sekunden seiner Wanduhr und der unerträglichen Stille seines Schlafzimmers. Es war kurz nach drei Uhr morgens, und wie so oft in den letzten Wochen war er hellwach. Die Müdigkeit war ein zäher, klebriger Schleim, der sich an jeden Muskel heftete, aber der Schlaf war ein Fremder geworden, der sich weigerte, einzutreten. Seine Augen brannten, trocken und rot vom ständigen Aufbleiben. Er rieb sie, aber das half nicht. Nur das leichte Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass sein Körper noch funktionierte.

Er atmete tief ein, versuchte die entspannenden Übungen, die seine Therapeutin empfohlen hatte – zählte rückwärts von hundert, konzentrierte sich auf seinen Atem, stellte sich vor, er würde auf einer Wolke schweben. Nichts. Stattdessen hörte er das Knarren des alten Hauses, das sich in der kühlen Nachtluft ausdehnte und zusammenzog. Normalerweise beruhigte ihn das. Jetzt war es nur ein weiteres Geräusch in der Symphonie der Leere.

Er drehte sich auf die Seite, das Kissen knirschte leise unter seinem Kopf. Sein Blick fiel auf den Nachttisch. Dort lag sein Lieblingsbuch, ein alter Hardcover-Roman, den er vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Er war sich absolut sicher, dass er es vorsichtig danebengelegt und seine Brille daraufgelegt hatte. Doch jetzt lag das Buch offen auf dem Boden, ein paar Seiten verknickt, die Brille gefährlich nah am Fuß der Kommode.

Ben runzelte die Stirn. Das war nicht das erste Mal. Letzte Woche hatte er seinen Schlüsselbund auf die Küchentheke gelegt, nur um ihn am nächsten Morgen im Schuhregal im Flur zu finden. Ein anderes Mal war sein Notizbuch, das er auf seinem Schreibtisch gelassen hatte, unter seinem Bett aufgetaucht. Kleine Dinge, die er bisher mit seiner zunehmenden Schusseligkeit durch den Schlafmangel abgetan hatte. »Verpeilt«, hatte er zu sich selbst gesagt, »muss am Schlafmangel liegen.« Doch die Häufigkeit, mit der diese »Verpeiltheiten« auftraten, war beunruhigend.

Er kletterte aus dem Bett, das Parkett knarrte leise unter seinen Füßen. Ein kalter Luftzug strich über seine Haut. Er ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Die Straße lag verlassen da, die Laternen warfen lange Schatten. Keine Bewegung. Dennoch schien die Scheibe leicht beschlagen zu sein, obwohl es nicht kalt genug dafür war. Und für einen kurzen Moment, einen winzigen Bruchteil einer Sekunde, schwor er, einen kaum sichtbaren Schriftzug in dem Beschlag zu erkennen. Etwas wie ein einzelner, flüchtiger Buchstabe, vielleicht ein »W« oder ein »M«, der verschwommen war, bevor er ihn richtig fixieren konnte. Er wischte mit dem Ärmel darüber, und der Beschlag verschwand.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Blödsinn. Er war einfach nur übermüdet und sah Gespenster, wo keine waren. Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Licht der Arbeitsplatte warf harte Schatten. Auf dem Küchentisch lag eine leere Kaffeetasse. Er war sich sicher, die Spülmaschine vor dem Schlafengehen angeschaltet zu haben und alle Tassen darin verstaut zu haben. Die Maschine summte leise im Hintergrund. Er öffnete sie – sie war halb voll, sauber, und die Kaffeetasse passte nicht mehr hinein. Er schüttelte den Kopf. Konnte es sein, dass er sie vergessen hatte? Oder war er im Halbschlaf aufgestanden und hatte etwas getrunken? Er konnte sich nicht erinnern. Die zunehmenden Gedächtnislücken waren ein weiteres Symptom, das ihn zunehmend beunruhigte.

Als er das kalte Wasser trank, spürte er einen weiteren Stich der Paranoia. War er allein im Haus? Er lebte allein, hatte keine Mitbewohner, keine Haustiere. Dennoch hatte er in den letzten Nächten das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Ein leises Geräusch vom Flur, wie ein vorsichtiges Scharren oder Kratzen. Er hatte es jedes Mal auf die Heizungsrohre oder das Windspiel des Nachbarn geschoben. Aber diesmal war es anders. Es war näher.

Er schlich zum Flur, sein Herz pochte. Die Dunkelheit schien dichter zu sein als gewöhnlich. Er lauschte. Nichts. Nur sein eigener, schneller Atem. Er machte das Licht an, um die Stille zu durchbrechen und die Schatten zu vertreiben. Als das Licht aufflackerte, sah er es: Auf dem hellen Dielenboden, direkt vor der Tür zum Wohnzimmer, war ein kleiner, dunkler Fleck. Nicht groß, vielleicht die Größe einer Münze. Er bückte sich. Es war kein Schmutz. Es war… ein getrockneter Blutfleck. Klein, alt, fast schwarz.

Ben fror der Schreck in die Glieder. Woher kam das? Er hatte den Boden erst letzte Woche gewischt. Da war nichts. Er berührte den Fleck vorsichtig mit der Fingerspitze. Er war rau und fest, definitiv getrocknet. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf. Wer war in seinem Haus gewesen? Und warum hatte er das nicht bemerkt? War es nur eine Einbildung? Eine Manifestation seiner Schlaflosigkeit, die seinen Verstand verdrehte?

Er zückte sein Handy und sah auf die Uhr. 03:27 Uhr. Viel zu früh, um jemanden anzurufen. Er war am Ende seiner Kräfte. Der Blutfleck starrte ihn an, ein winziger, aber unbestreitbarer Beweis dafür, dass etwas in seinem Leben nicht stimmte. Etwas, das über bloße Vergesslichkeit hinausging. Etwas, das ihn beobachtete.

Ben stand im Halbdunkel und spürte, wie die Anspannung in ihm wuchs. Der Blutfleck war klein, vielleicht so groß wie eine Ein-Euro-Münze, aber er zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, als würde er pulsieren. Die Stille war nun kein Mangel an Geräuschen mehr – sie war ein Druck, der in seinen Ohren rauschte.

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Nicht in Panik verfallen. Nicht wieder.

Die letzte Panikattacke hatte ihn fast ohnmächtig werden lassen. „Rational bleiben“, murmelte er. Seine Stimme klang fremd in der Dunkelheit. Er ging zurück ins Schlafzimmer, das Buch lag nun wieder auf dem Nachttisch.
Wieder auf dem Nachttisch.

Ben blieb abrupt stehen. Sein Blick wanderte zwischen Tisch und Tür hin und her. Er hatte das Buch aufgehoben, ja – aber dort hingelegt? Nein. Das hatte er nicht getan. Seine Hand tastete über die Oberfläche, mechanisch. Die Brille war auch da. Als hätte jemand – oder etwas – alles wieder an seinen Platz gebracht.

Ein Prickeln breitete sich über seine Arme aus. Kalte Gänsehaut, die unter der Haut zu wuchern schien. Er sah sich um. Der Raum war leer. Natürlich war er leer. Ben rieb sich die Stirn. Er musste den Schlaf nachholen. Er war übermüdet, sein Gehirn spielte ihm Streiche. Aber warum hatte er dann das Gefühl, als hätte sich etwas bewegt, genau in dem Moment, als er sich umgedreht hatte?

Ein Schatten vielleicht. Ein Schatten hinter dem Spiegel? Er ging zur Kommode. Der große Wandspiegel zeigte nur sein eigenes blasses Gesicht, geisterhaft in der Dunkelheit, mit weit aufgerissenen Augen und eingefallenen Wangen. „Du wirst krank“, flüsterte er. Es war nicht als Selbstgespräch gedacht – eher wie ein Urteil. Doch in dem Moment, als er sich abwenden wollte, blitzte hinter ihm etwas auf – nur für einen Augenblick. Er drehte sich blitzschnell um. Nichts. Nur das offene Schlafzimmer. Kein Geräusch. Kein Licht. Keine Bewegung.

Er starrte in den Flur. Etwas dort draußen stimmte nicht. Es war nicht die Dunkelheit, die ihn beunruhigte. Es war das Gefühl, dass sie beobachtete. Ben trat aus dem Schlafzimmer, vorsichtig, als würde er auf einem fremden Boden gehen. Der Flur wirkte anders. Nicht optisch – aber atmosphärisch. Dichter. Er fühlte sich an wie ein Gang in einem alten Hotel, in dem man aus Versehen auf der falschen Etage gelandet war.

Die Dielen knarrten unter seinen nackten Füßen. Er ging an der Wand entlang, berührte sie mit der Hand – sie war kalt. Ungewöhnlich kalt. Vielleicht war das Thermostat kaputt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Als er die Treppe hinunterging, fiel sein Blick auf den Eingangsbereich. Die Haustür war verschlossen. Der Riegel saß fest, das Schloss ebenfalls. Aber der Briefschlitz stand offen. Nicht ganz – nur einen Spalt.
Ein hauchdünner Streifen Schwarz, wie ein Auge in der Tür. Ben blieb stehen. Starrte. Wartete. War das der Wind gewesen? Er war sich sicher, ihn geschlossen zu haben. Er schloss ihn immer. Ritual. Automatisch. Kontrollzwang, hatte die Therapeutin gesagt. „Ein Mechanismus, um Kontrolle zu behalten, wo du keine hast.“ Vielleicht war das wahr. Er trat näher. Beugte sich langsam hinunter, blickte durch den Schlitz. Nur Dunkelheit draußen.

Die Straße war leer. Kein Auto, kein Licht, kein Geräusch. Dann hörte er ein Flüstern. Leise. Kratzend. Nicht wie Worte. Eher wie ein schabendes Summen. Es kam von draußen. Oder aus dem Briefschlitz. Ben zuckte zurück, schlug die Klappe zu. Das Metall schepperte, hallte durch den Flur wie ein Warnsignal. Er verharrte. Keine Reaktion. Nur wieder Stille. Er richtete sich auf, spürte, wie sein Puls in den Schläfen hämmerte. In seiner Brust klopfte eine alte Angst, die er seit Jahren nicht gespürt hatte.

Als Kind hatte er Stimmen gehört. Nur manchmal. Immer nachts. Damals hatte man ihm gesagt, es sei nur der Wind. Er wusste es besser. Ben schloss die Tür ab, zweimal, wie immer. Der Riegel rasselte mechanisch, als wollte er sichergehen, dass auch wirklich niemand von außen hereinkam. Oder von innen hinaus. Er wandte sich um. Und stockte. Etwas lag auf der Fußmatte. Nicht draußen. Drinnen. Ein kleines, rechteckiges Stück Papier – leicht vergilbt, mit ausgefransten Kanten. Ein Foto. Er kniete sich langsam hin, als könnte eine schnelle Bewegung es vertreiben wie ein Tier. Er hob es auf. Zögernd. Vorsichtig. Es war ein Kinderfoto. Ein Junge von vielleicht sieben Jahren, mit schiefem Lächeln, auf einem Spielplatz. Im Hintergrund: ein verwitterter Holzpavillon, ein Klettergerüst aus Metall.

Die Sonne fiel schräg durchs Bild, wie bei alten Schnappschüssen aus den Neunzigern. Ben erstarrte. Er kannte diesen Ort. Und er kannte den Jungen. Er selbst. Das war ein Foto aus seiner Kindheit. Aber das hier war unmöglich. Seine Mutter hatte alle alten Bilder weggeworfen. Damals. Nach dem… Er schluckte. Langsam drehte er das Foto um. Eine Handschrift, mit blauer Tinte, zitterig geschrieben: „Du warst nicht allein.“ Er ließ das Foto fallen, als hätte es ihn gebissen. Es segelte zu Boden, landete auf der Rückseite. Sein Herz raste. Er konnte kaum atmen. War jemand in seinem Haus gewesen? Heute Nacht? Vor Tagen? Oder war das alles Teil eines Zerfalls, der schon vor Wochen begonnen hatte? Seine Finger kribbelten. Kalter Schweiß bildete sich an seinem Rücken. Du warst nicht allein.

Der Satz hallte in seinem Kopf wie ein Echo aus einer vergessenen Erinnerung. Ben ließ das Foto liegen. Es fühlte sich falsch an, es noch einmal zu berühren – als hätte es sich beim Lesen verändert. Er trat zurück, den Blick auf den Flur gerichtet, aber sein Verstand war woanders. Kindheit. Holzpavillon. Jemand hinter der Kamera. Er erinnerte sich nicht an das Foto. Aber er erinnerte sich an das Gefühl. An den Moment. An jemanden, der lachte – tief, kehlig, nicht freundlich. Ben rieb sich die Schläfen. Er wollte das alles vergessen. Er wollte nur schlafen. Doch er wusste, dass er nicht schlafen würde. Nicht jetzt. Langsam ging er zurück ins Schlafzimmer.

Die Dunkelheit empfing ihn wie ein zögernder Gastgeber. Er schaltete die Lampe ein. Das Licht war grell, unbarmherzig – und das Erste, was er sah, ließ ihn innehalten. Die Bücher im Regal standen anders. Er war sich sicher. Ganz sicher. Ben war pedantisch, wenn es um Ordnung ging. Das Alphabet war sein Gesetz: Autorenname, Erscheinungsjahr, Thema. Immer. Aber nun… Die mittlere Reihe war verschoben. Drei Bücher lagen quer. Quer. Ein völliger Bruch. Er ging näher, zog eines heraus. Ein Lexikon der psychischen Störungen. Dick, grau, alt. Er hatte es während seiner ersten Therapie gelesen. Als er mit 19 diesen… Einbruch hatte. Ein Zettel fiel heraus. Handgeschrieben, in derselben Schrift wie auf dem Foto: „Nicht vergessen, Ben. Du hast es gewollt.“ Er blinzelte. Der Zettel war dünn, fast durchsichtig. Er roch nach Staub, nach Keller, nach Erinnerung. Ben schloss das Buch. Er drehte sich um. Sein Blick fiel auf das Bett. Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Er war sich sicher, sie selbst glatt gezogen zu haben, bevor er das Zimmer verlassen hatte. Er tat das immer.

Ein Zittern durchlief ihn. Nicht heftig. Nur ein leises, feines Frösteln. Wie eine Ahnung. Wie eine Frage, die noch nicht gestellt war. Ben stand minutenlang reglos im Raum.
Nur sein Atem bewegte sich. Nicht einmal die Schatten tanzten – als hätte das Licht selbst beschlossen, still zu bleiben. Er wollte etwas tun. Etwas Reales, Greifbares. Etwas, das ihn verankerte. Also richtete er das Bett wieder her. Zog die Decke glatt, wie er es immer tat. Ein Ritual gegen das Chaos. Als er das Kissen anhob, spürte er es sofort. Ein Widerstand. Etwas war darunter. Nicht viel – vielleicht so groß wie eine Handfläche. Er zog es hervor. Ein Stofftier. Alt, grau, die Naht an der Seite aufgeplatzt, das Plastikauge halb abgekratzt. Ben hielt es in den Händen, als hätte ihm jemand einen Teil seiner Kindheit zurückgegeben – Aber nicht aus Freundschaft. Eher wie eine Warnung. Er kannte das Tier. Es hieß Moritz. Er hatte es verloren, als er neun war. Auf einem Ausflug. Er hatte tagelang geweint. Seine Eltern hatten es nie gefunden.

Und jetzt lag es unter seinem Kissen. Ben sank langsam auf die Bettkante.
Der Plüsch fühlte sich kühl an, fremd, obwohl es einst das Vertrauteste gewesen war, das er besaß. Er drehte es um.
Ein Aufnäher war angenäht – neu.
Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund:

„WILLKOMMEN ZURÜCK.“

Kapitel 2: Die Praxis


Ben saß im Auto und starrte auf das graue Glas der Eingangstür. Die Praxisräume im ersten Stock lagen hinter einem nüchternen Treppenhaus, sauber, funktional, ohne jede Erinnerung an die Nacht. Er hatte kaum geschlafen. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Das Stofftier – Moritz – lag noch immer unter seinem Kissen. Er hatte es nicht mehr angerührt. Nicht weggeworfen. Ein Teil von ihm wollte glauben, dass er es selbst gefunden und vergessen hatte. Ein anderer Teil wusste: Das war gelogen.

Seine Hände zitterten leicht, als er den Zündschlüssel abgezogen hatte. Jetzt versuchte er, sich zu fassen. Er war Psychologe. Er wusste, was Schlafentzug mit dem Geist machte. Halluzinationen. Erinnerungslücken. Paranoide Gedankenmuster. Aber trotzdem. 
Der Blutfleck.
Das Foto.
Der Zettel.
Das Stofftier.

Vier Dinge. Vier zu viele. Er stieg aus und schloss die Fahrertür. Die Bewegung fühlte sich mechanisch an, als wäre sie ihm nicht ganz zugehörig. Oben im Fenster sah er das Licht. Irina war schon da. Pünktlich wie immer. Er zwang sich zum Lächeln, als er eintrat. „Guten Morgen, Herr Dr. Lindner“, sagte sie freundlich, ohne aufzusehen. Ihre Stimme war sanft, routiniert. Sie tippte in die Tastatur, fuhr sich durch das Haar, wie sie es jeden Morgen tat. Ben hängte seinen Mantel auf. Die Wand fühlte sich zu warm an. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Irinas Blick war kurz, prüfend. Ihre Stirn legte sich in eine kleine Falte, kaum sichtbar. „Schlechter Schlaf“, antwortete Ben. Das Lächeln blieb aufgesetzt. „Kommt vor.“ Sie nickte, sagte nichts weiter. Er spürte, dass sie mehr fragen wollte – doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann Schweigen klüger war. Ben ging den Gang entlang, vorbei an den lautlosen Türen. Seine eigene war halb geöffnet. Das Namensschild darunter: Dr. Benjamin Lindner – Praxis für psychologische Beratung und Verhaltenstherapie er trat ein, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Der Raum war hell, steril, aufgeräumt. Doch als er sich an seinen Schreibtisch setzte, sah er etwas auf dem Stuhl gegenüber. Ein einzelnes Haar. Dunkel. Lang. Nicht seins. Lukas kam wie immer zu früh. Ben hörte seine Schritte schon auf dem Flur, bevor Irina leise anklopfte. „Herr Rottmann ist da.“ „Danke“, murmelte Ben und zwang sich zu einem Nicken. Er atmete tief durch, setzte das professionelle Lächeln auf, das sich heute anfühlte wie eine schlecht sitzende Maske. Lukas betrat den Raum mit schnellen, kontrollierten Bewegungen. Jeans, schwarzes T-Shirt, dunkle Ringe unter den Augen. Er trug immer dieselbe Kleidung – als würde er jeden Morgen denselben Avatar zusammenstellen.

„Guten Morgen, Dr. Lindner.“ „Guten Morgen, Lukas. Schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz.“ Lukas setzte sich, streifte sich mit einer schnellen Geste die Haare aus dem Gesicht. Er war blass, sein Blick flackerte, aber er wirkte nüchtern, klar. Zu klar. Ben ließ sich ebenfalls nieder, öffnete sein digitales Notizprogramm. Er fühlte das Gewicht der Nacht auf seinen Schultern, die Gedanken träge wie durch Sirup. Er hatte Angst, sich zu verhaspeln, etwas zu übersehen – oder zu viel zu hören.

„Wie war Ihre Woche?“, begann er, bewusst ruhig. Lukas zuckte mit den Schultern. „Arbeit. Fehlerbehebung. Drei Nächte durchgearbeitet, nur Junkfood gegessen. Klassisches Start-up-Sterben.“ Er lachte trocken, aber da war nichts Fröhliches darin. Ben notierte es: Ermüdung, Selbstabwertung, Zynismus verstärkt. „Und die Gedanken? Die Unruhe?“ Lukas’ Blick wich aus. „Sind da. Immer. Wie eine zweite Stimme. Nur… technischer.“ „Technischer?“ „Wie Code, der im Hintergrund läuft. Ich seh mein Leben manchmal wie ein Script mit Bugs, weißt du? Aber ich darf nichts neu starten. Ich muss es einfach laufen lassen. Irgendwann stürzt’s ab.“ Ben beobachtete ihn. Der Satz klang wie ein geheimer Hilferuf, hinter trockener Logik versteckt. Er wollte etwas sagen, da legte Lukas den Kopf leicht schräg und sah ihn plötzlich an, forschend, fast neugierig. „Wie sind Sie eigentlich mit dem Blutfleck umgegangen?“ Ben fror ein. Sein Herz machte einen Schlag zu viel. Oder zu wenig. „Wie bitte?“, fragte er leise. „Na, der Blutfleck. Ich mein, das ist schon… irritierend, oder?“ Lukas blickte ihn an wie jemand, der testet, ob er verstanden wurde. „Ich wär da durchgedreht.“ Ben schluckte.
Er hatte niemandem davon erzählt. Nicht Irina. Nicht seinem Bruder. Niemand. Der Fleck war echt gewesen. Oder eingebildet. Aber auf jeden Fall nur in seinem Haus. „Lukas“, sagte er langsam, „haben Sie mir das gerade wirklich gesagt?“ „Was gesagt?“ „Das mit dem Blutfleck.“ Lukas runzelte die Stirn. Sein Blick wurde hart. „Ich… Nein. Ich habe nichts gesagt. Wieso?“ Ben saß reglos da. Ein unangenehmes Summen füllte plötzlich seinen Kopf, als hätte jemand ein Mikrofon an die Realität gehalten. „Schon gut“, murmelte er. Er lächelte. Das war einfacher, als zu fragen. Ben zwang sich, ruhig zu atmen. Vier Sekunden ein. Sechs aus. Wie er es seinen Patienten beibrachte. „Schon gut“, wiederholte er, diesmal fester. „Erzählen Sie mir mehr über Ihre Woche. Sie sagten, Sie hätten drei Nächte durchgearbeitet?“ Lukas zögerte, dann nickte er. „Ja. Ich meine, ich hab’s mir selbst eingebrockt. Ich sag nie Nein. Wenn der CTO was will, spring ich. Ich schlaf auf dem Bürostuhl, bin der Erste morgens, der Letzte nachts.“
„Warum?“
„Weil ich sonst… nicht da bin.“ Ben hob den Kopf. „Wie meinen Sie das?“ Lukas starrte an die Wand hinter Ben, als würde dort eine Antwort stehen. „Wenn ich nicht arbeite, dann denk ich. Wenn ich denke, dann… bin ich allein. Und wenn ich allein bin, wirds laut.“ Ben notierte nichts mehr. Er hörte nur zu. Nicht wie ein Therapeut. Mehr wie jemand, der durch ein dünnes Fenster in ein anderes Leben blickte – ein Leben, das seinem beängstigend ähnlich war. „Was hören Sie, wenn’s laut wird?“, fragte er nach einer Pause. Lukas zuckte leicht. „Kritik. Fehler. Was ich hätte sagen sollen. Was ich nicht gelöscht habe. Alte Mails. Alte Gespräche. Sachen, die schon längst vorbei sind, aber trotzdem immer wieder aufploppen. Wie so ein Memory Leak.“ Ben nickte langsam. Lukas sprach in Bildern, die er verstand – besser, als ihm lieb war. „Manchmal“, fuhr Lukas fort, „denke ich, ich hab irgendwo in mir einen Bug, den keiner findet. Und mit jedem Update wird er schlimmer.“ „Und was glauben Sie, passiert, wenn dieser Bug nicht behoben wird?“ Lukas lächelte schmal. „Dann stürzt das System ab. Komplett. Nichts mit Fehlermeldung oder Neustart. Einfach schwarzer Bildschirm.“

Ben spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. Er kannte dieses Gefühl. Nicht aus Büchern. Nicht aus Studien. Aus sich selbst. „Und Sie glauben, dass niemand diesen Fehler sehen kann?“ Lukas sah ihn zum ersten Mal direkt an. Seine Augen waren dunkel, aber klar. „Ich glaube, jemand sieht ihn längst. Ich glaube, jemand hat ihn schon vor Jahren entdeckt – aber sich entschieden, nichts zu sagen.“ Ben schluckte. Der Raum fühlte sich plötzlich kleiner an. Wärmer. Als würde die Luft stehen. Dann lächelte Lukas, fast versöhnlich. „Aber es ist gut, dass ich herkomme. Hier kann man wenigstens mal laut über so was reden, ohne dass gleich einer denkt, man ist durchgedreht.“ Ben nickte, professionell. „Und das sind Sie nicht.“ „Noch nicht“, sagte Lukas und lachte. Es war ein ehrliches, raues Lachen. Aber es hallte Ben nach wie ein Echo aus seinem eigenen Inneren. Die Sitzung endete routiniert. Ben notierte ein paar Stichworte. Gab einen neuen Termin. Reichte die Hand. Lukas schloss die Tür hinter sich. Ben blieb allein zurück. Das Summen im Kopf war zurück. Aber es kam nicht mehr von außen. Es kam von irgendwo viel näher. Ben schloss die Tür, lehnte sich dagegen. Für einen Moment stand er einfach nur da, die Augen geschlossen, die Stirn an das kühle Holz gelehnt. Sein Herz schlug ruhig, zu ruhig – wie eine Maschine, die vorgibt, in Ordnung zu sein. Er öffnete die Augen, ging zum Fenster, schob die Jalousie ein Stück zur Seite. Draußen rauschte der Verkehr wie weißes Rauschen. Menschen gingen vorbei, anonym, gleichgültig. Die Welt funktionierte. Nur er… stolperte. Er ließ die Jalousie los, trat zum Spiegel über der Kommode. Sah sich an. Rote Augen. Blass. Ein dünner Schweißfilm auf der Stirn. Er hatte sich früher oft im Spiegel betrachtet, um sich zu sammeln – heute fühlte es sich an, als würde er sich prüfen. Als wäre da jemand, den er beobachten sollte. „Du warst es. Und du erinnerst dich nicht.“ Der Satz aus der Nacht stieg in ihm auf wie Galle. Er drückte die Finger gegen die Augenlider, hart, bis Farben tanzten. Ein leises Klopfen. Dann öffnete sich die Tür, und Irina trat ein. Sie trug ein Glas Wasser, eine Tablette in der Hand. „Ich hab den nächsten Termin abgesagt“, sagte sie leise. „Der Junge kann warten.“ Ben blickte sie an. Müde. Dankbar. „War ich so offensichtlich?“ „Sie sehen aus wie jemand, der dringend einen Reset braucht.“ Er nahm das Glas, setzte sich auf die kleine Couch. Irina reichte ihm die Tablette. Ein leichtes Beruhigungsmittel – nicht stark, aber ausreichend, um den Druck abzudämpfen. „Ich glaub, ich…“ – er zögerte. Dann: „…hab eben etwas gehört, das gar nicht gesagt wurde.“ Irina setzte sich ihm gegenüber, faltete die Hände im Schoß. „Sie wissen, was das heißen kann. Schlafmangel. Suggestion. Verdeckte Reize.“ Ben nickte langsam. „Oder es war real.“ Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: „Vielleicht beides.“ Er lachte kurz, tonlos.

„Sie sollten sich ein, zwei Stunden ausruhen. Ich kann die Tür abschließen. Wenn Sie wollen, schließ ich auch das Fenster.“ Ben sah sie an. Ihre ruhige Fürsorglichkeit war fast zu viel. „Danke, Irina.“ Sie stand auf. „Ich bin da, falls Sie mich brauchen.“ Dann verließ sie den Raum. Ben blieb zurück. Das Glas Wasser in der Hand. Die Tablette zwischen den Fingern. Er sah sie an. Und fragte sich zum ersten Mal wirklich: „Bin ich noch gesund?“ Ben lag reglos auf der kleinen Couch seines Behandlungszimmers. Das Licht fiel weich durch die Lamellen, der Tag war draußen einfach weitergegangen, als hätte er nie gestockt. Die Tablette begann zu wirken. Nicht wie eine Lösung, eher wie eine Dämpfung. Ein Schleier über allem – Farben, Geräusche, Gedanken. Und irgendwo unter diesem Schleier lag sie. 

Mira. Damals. Er war zweiundzwanzig, das Herz zu groß für seinen Körper, der Kopf zu voll mit Diagnosen, Begriffen, Systematik. Die Welt war geordnet, an der Uni sortiert in Theorien, Prüfungsphasen und Lernpläne. Er war einer der Guten. Vielleicht zu gut. Der Innenhof hinter dem Hauptgebäude war ihr Treffpunkt. Eine kleine Oase zwischen Beton und Bücherstapeln. Mira lag im Gras, barfuß, eine Zigarette locker zwischen den Fingern. Ihre Haare waren rostrot gefärbt, kurz und zerzaust. Sie hatte keine Scheu. Vor nichts. Schon gar nicht vor ihm. „Du bist wie ein verschlossenes Fenster bei Regen“, hatte sie mal gesagt. „Ich weiß, dass dahinter was ist. Aber ich komm nicht ran.“ Er hatte gelächelt, verlegen, und gesagt: „Vielleicht bist du auch einfach keine gute Kletterin.“ Sie hatte gelacht – dieses klare, durchdringende Lachen, das alles auflöste. Danach hatte sie Origami gefaltet. Immer. Vögel, Kraniche, manchmal auch kleine Teufel. Sie ließ sie auf Parkbänken, Fenstersimsen oder in Bibliotheken zurück. „Wilde Grüße an Fremde“, sagte sie. „Vielleicht erinnern sie jemanden an etwas Schönes. Oder etwas Schreckliches. Beides ist gut.“

Ben hatte sie geliebt. Nicht wie in Romanen. Eher wie ein Zuhause, das man nie ganz betritt, aber immer wieder umrundet. Er hatte es nie gesagt. Stattdessen hatte er das Praktikum in München angenommen. Zwei Monate später war Mira verschwunden. Nicht gestorben. Nicht weggezogen. Einfach… weg. Sie hatten ein einziges Mal noch Kontakt. Eine Nachricht.

Ihr Text: „Ich bin inzwischen jemand anders. Und du wahrscheinlich auch.“ Er hatte nie geantwortet. Vielleicht aus Stolz. Vielleicht aus Angst. Vielleicht, weil er wusste, dass sie recht hatte. Ben schlug die Augen auf. Der Raum war still. Das Glas leer. Die Erinnerungen noch da – wie Staub, den man mit keiner Tablette wegwischen konnte. Er sah zur Tür. Und dann auf den Beifahrersitz seines Verstandes. 

Dort lag plötzlich ein Bild. Nicht real. Nicht greifbar. Aber klar. Ein Kranich aus Papier. Weiß. Mit roten Linien. Wie ein Schwur aus einer Zeit, in der er noch dachte, dass alles heilbar ist. Ben verließ die Praxis am späten Nachmittag. Die Sonne hing tief, warf lang gezogene Schatten auf den Asphalt. Er fühlte sich leer – nicht erschöpft, sondern ausgespült. Als hätte die Rückblende mehr aus ihm herausgerissen, als er zeigen wollte. Ben trat in den Flur, das Licht war gedämpft, fast abendlich weich.
Irina saß noch an der Rezeption, ihr Mantel hing über dem Stuhl, sie tippte gerade etwas in den Kalender. Als sie ihn sah, richtete sie sich sofort auf. „Wie fühlen Sie sich?“ „Besser“, sagte Ben ehrlich – oder halb ehrlich. „Genug für heute.“ Irina nickte, nicht überrascht. Sie war eine stille Beobachterin, eine Meisterin des richtigen Timings. „Ich hab alle Termine für den Rest der Woche rausgenommen. Sie brauchen Pause. Wenn Sie nächste Woche zurück sind, fangen wir neu an – ohne Stress.“ Er wollte protestieren, doch der Blick, den sie ihm zuwarf, ließ keine Diskussion zu. „Danke“, sagte er stattdessen. Und er meinte es. Sie griff nach ihrer Tasche, warf einen letzten Blick über die Theke, schaltete das Licht im Empfangsbereich aus. „Wollen Sie, dass ich abschließe? Oder bleiben Sie noch kurz?“ „Nur ein paar Minuten.“

Sie trat an ihm vorbei, berührte flüchtig seinen Arm – eine Geste, die keine Worte brauchte. „Melden Sie sich, wenn etwas ist.“ „Mache ich.“ Dann war sie weg. Leise Schritte, Tür zu, Stille.

Ben nahm seinen Mantel, trat hinaus. Die Luft war kühl. Er spürte die Müdigkeit in den Knochen, aber auch eine seltsame Klarheit. Nicht Erleichterung. Eher… Vorbereitung. Er stieg ins Auto. Schloss die Tür. Zündete nicht sofort. Einfach sitzen. Durchatmen. Und dann fiel sein Blick auf den Beifahrersitz. Zuerst war da nichts. Nur das Leder. Dann sah er es. Ein kleines Stück Papier, gefaltet. Weiß. Ein Kranich. Nicht alt. Nicht angestaubt. Frisch gefaltet. Die Linien sauber. Die Ecken scharf. Seine Hände blieben reglos am Lenkrad.

Sein Atem wurde flacher. Ein Prickeln breitete sich in seinem Rücken aus, zog über die Schultern bis in die Finger. Er streckte langsam die Hand aus, nahm das Origami-Tier vorsichtig auf. Dreht es. Wendete es. Nichts. Kein Name. Kein Zeichen. Nur: Erinnerung in Falttechnik. Er legte es wieder ab. Starrte es an, als würde es gleich losfliegen. Mira. Er hatte seit zwei Jahrzehnten keinen Kranich mehr gesehen. Nicht in echt. Nicht in der Hand. Nicht in seiner Nähe. Und jetzt – plötzlich – lag er da. Er drehte sich zur Fahrerseite, sah hinaus auf den Gehweg. Menschen gingen vorbei, ohne ihn zu beachten. Niemand blieb stehen. Niemand hatte sich umgesehen. Niemand hatte ihm etwas hingelegt. Er blickte wieder zum Kranich. Die Falze hatten sich leicht geöffnet, als würde das Papier atmen.